Drei Fragen an Prof. Dr. Uwe Swarat

Schwerpunktthema der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Deutschland im Oktober in Eisenach ist die Studie des DÖSTA mit dem Titel „Tradition in den Kirchen“. Dabei geht es um die Begriffe Traditionsbildung, Traditionsbindung, Traditionskritik und Traditionsfortschreibung. Wieweit ist die Fragestellung für das Gespräch zwischen den Konfessionen heute noch aktuell?

Swarat: Das Thema „Tradition“ ist in allen Kirchen heute aktuell, weil die Weitergabe des Glaubenswissens und der Glaubenspraxis an die kommenden Generationen überall ziemlich schwierig geworden ist. Das Phänomen des Traditionsabbruchs gibt es in fast allen Kirchen. Alle Kirchen stehen heute vor der Frage, wie sie ihre Identität im geschichtlichen Wandel wahren können. Wie wandlungsfähig müssen Kirchen heute sein, wenn sie nicht im Traditionalismus erstarren oder durch vollständige Anpassung an die Zeit sich selbst verlieren wollen? Bei diesen sehr grundlegenden Problemstellungen hilft es, wenn Kirchen gemeinsam nach der Bedeutung von Tradition fragen. Und natürlich ist die klassische kontroverstheologische Frage weiterhin aktuell, in welchem Verhältnis Heilige Schrift und kirchliche Tradition zueinander stehen; denken Sie nur daran, dass für die Reformation „allein die Schrift“ und nicht die Tradition oder die Traditionen Regel und Richtschnur der Verkündigung ist.

Ziel der Studie war nicht die Erstellung eines Konsenstextes, sondern der Versuch, die Positionen der unterschiedlichen Konfessionen wechselseitig durchsichtig zu machen. An welcher Stelle kam es Ihrer Einschätzung nach zu Annäherungen und wo gibt es weiterhin Bereiche mit gegensätzlichen Standpunkten?

Swarat: Eine wichtige Annäherung hat sich z. B. durch die Erkenntnis ergeben, dass es keine gänzlich traditionslosen Kirchen gibt – auch nicht unter den Freikirchen, die gelegentlich diesen Eindruck erwecken. Es muss also jede Kirche zunächst bei sich selbst das Verhältnis von Schrift und Tradition klären und kann dabei von den Erkenntnissen und Erfahrungen anderer lernen. Gemeinsam haben wir die grundlegende Bedeutung der traditio, also der Überlieferung, für den christlichen Glauben unterstrichen. Tradition ist nämlich ihrem Kern nach die vergegenwärtigende Erinnerung an Gottes Heilshandeln. Ohne diese Erinnerung gibt es keinen Glauben und keine Kirche. Es sind bei unserer Arbeit aber auch Fragen offen geblieben. Wie verhalten sich die im Laufe der Geschichte entstandenen kirchlichen Gewohnheiten zum Erbe aus der Apostelzeit? Beides wird ja oft als „Tradition“ bezeichnet. Oder: Worin genau bestehen der Unterschied und der Zusammenhang von Heiliger Schrift und kirchlicher Tradition? Und: Können wir ökumenisch gemeinsam erklären, ob – und wenn ja, in welchem Umfang – Kritik an der Tradition und den Traditionen nötig und möglich ist? An diesen Stellen sind wir noch nicht weitergekommen.

Im vergangenen Monat veröffentlichten prominente Persönlichkeiten einen Aufruf „Ökumene jetzt“. Gibt es nach Ihrer Meinung aus der Arbeit an der „Traditionsstudie“ Elemente und Ergebnisse, die das Anliegen des Aufrufs nach einer Überwindung der Spaltung der Christenheit unterstützen?

Swarat: Das Anliegen, die Spaltung der Christenheit zu überwinden, wird natürlich von allen ökumenisch engagierten Christen geteilt. Eben diesem Ziel dient auch die Arbeit des DÖSTA einschließlich unserer Traditionsstudie. Das Anliegen des Aufrufs „Ökumene jetzt“ verdient also jede Unterstützung. Allerdings täuschen sich die prominenten Verfasser, wenn sie meinen, man brauche für die sichtbare Einheit der Kirche keine weiteren theologischen Klärungen mehr. Es ist eben nicht nur guter Wille, der zur sichtbaren Einheit noch fehlt, es sind auch noch ungeklärte theologische Gegensätze, vor allem im Bereich von Abendmahl, Amt und Kirchenverständnis, aber auch in der Tauflehre, die das Ziel noch nicht greifbar sein lassen. Wenn die Verfasser die Losung ausgeben „Ein Gott, ein Glaube, eine Kirche“, dann wüsste man als Protestant z. B. gerne, ob die „eine Kirche“ den Papst als irdisches Oberhaupt braucht oder nicht. Dazu schweigt sich der Aufruf aber aus. In der gegenwärtigen Lage helfen uns auch gutgemeinte öffentliche Appelle nicht weiter, sondern nur geduldige theologische Arbeit und intensive kirchliche Zusammenarbeit auf allen Gebieten, auf denen sie bereits möglich ist.

Dr. Uwe Swarat ist Professor für Systematische Theologie am Theologischen Seminar Elstal bei Berlin. Er ist gemeinsam mit Prof. Dr. Bernd Oberdorfer Mitherausgeber der Studie des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses (DÖSTA) „Tradition in den Kirchen. Bindung, Kritik, Erneuerung“, die 2010 veröffentlicht wurde. Prof. Dr. Swarat ist Vorsitzender des DÖSTA.