"Grenzerfahrung" - Zum Motto der FriedensDekade 2015

"Grenzerfahrung" lautet das Motto der Ökumenischen FriedensDekade 2015.

(07.09.2015) Ein Riss geht durch das signalrote Plakat mit dem Titel „Grenzerfahrung". So lautet das Motto der 36. Ökumenischen FriedensDekade vom 8. bis 18. November. Immer mehr Menschen sind angesichts von Krieg, Gewalt und Verfolgung in ihren Heimatländern zur Flucht gezwungen. Dabei machen sie unterschiedliche „Grenzerfahrungen". Die Grenzen bleiben vielen verschlossen, viele kommen auf den langen Wegen der Flucht an ihre eigenen körperlichen und seelischen Grenzen, und täglich sterben Menschen auf der Flucht. Selbst in den vermeintlich sicheren Zufluchtsländern stoßen die Flüchtlinge an Grenzen. Die düstere Vokabel der „Unzumutbarkeit" macht hierzulande die Runde und lässt die Flüchtlinge an Barrieren stoßen, sie erleiden schikanöse Behandlungen an den Grenzen, unzählige bürokratische Hürden müssen erklommen werden, die Sprache zieht eine spürbare Grenze. „Grenzerfahrung" kennzeichnet das Leben der vielen Millionen Menschen auf der Flucht. Sie geht wie der Riss auf dem Mottoplakat durch ihr Leben.

Der Trägerkreis der Ökumenischen FriedensDekade, bestehend aus der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) und der Arbeitsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), will zum einen solche Grenzerfahrungen aufzeigen, andererseits auch die zahlreichen (inter-)kulturellen Chancen vor Augen stellen, die sich aus der Aufnahme von Flüchtlingen und dem Zugehen auf Fremde ergeben. Dabei gilt es vor allem, die eigenen Grenzen zu überwinden. Denn nach wie vor bestehen in der Gesellschaft, aber auch in den Kirchen nicht nur Vorbehalte gegen Flüchtlinge, sondern auch gegen den interreligiösen Dialog. Die FriedensDekade will zum Austausch und zur Zusammenarbeit ermutigen, um vorhandene Vorurteile und gegenseitige Ängste abzubauen. Auch die strukturellen Ursachen von Flucht, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt will die FriedensDekade thematisieren. Dass die Rüstungsausgaben steigen und gewaltfreie Konfliktlösungen nicht die oberste Priorität besitzen, betrachtet der Trägerkreis ebenfalls als eine kritische „Grenzerfahrung".

Wie auch in den früheren Jahren bezieht sich die FriedensDekade auf zwei biblische Texte. Der erste ist das Gebet, das der Prophet Jona im Bauch des Fisches spricht (Jona 2,3-10). Der Auftrag, den Jona in Gottes Namen an die Stadt Ninive richten soll, bedeutet für ihn eine harte Grenzerfahrung. Jona flüchtet, wird schließlich als vermeintlicher Verursacher eines Sturmes über Bord eines Bootes geworfen und von einem riesigen Fisch verschluckt. Dort, in seiner existenziellen Not, in der tiefsten Tiefe stimmt Jona dennoch ein Danklied an. Denn er ahnt, wie langmütig Gott ist, und er nicht nur sein Leben, sondern auch das der Einwohner der Stadt Ninive retten will. Diese Güte ängstigt ihn, widerspricht sie doch seiner bisherigen Einstellung. Aber Jona wagt es, die eigenen Grenzen zu überschreiten. Und macht am Ende die Erfahrung, dass Gott selbst seine Grenzerfahrung zum Guten wendet.

Der zweite Text ist die Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37). Darin überschreitet der Samariter die unsichtbar zwischen Juden und Samaritanern gezogene Grenze und kommt dem unter die Räuber gefallenen Juden zu Hilfe. Wenn es darum geht, anderen in ihrer Not zu helfen, darf es keine Grenzen geben. Jesus öffnet die Augen für das Reich Gottes, bei dem ich Gott im gestrandeten, geschundenen und verarmten Nächsten finde. Auf dem Plakat der FriedensDekade ist der Riss notdürftig mit einem Klebestreifen zusammengehalten. Er wirkt wie das Gebet des Jona oder die Grenzüberschreitung des Samariters: Wo die eigenen Grenzen gesprengt, wo falsche Grenzen niedergerissen werden, da kann Leben weitergehen. Und es eröffnet sich eine neue Perspektive der Freiheit und des Friedens.

Marc Witzenbacher

(Veröffentlicht in KNA ÖKI Nr.33 vom 11. August 2015, Seite 6.)

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