Jens Haverland: Liebe Frau Gendera, mögen Sie sich kurz vorstellen und erzählen, was Sie vorher gemacht haben?
Dagmar Gendera: Als Tochter einer Küsterin wuchs ich in einer evangelischen Kirche auf und engagierte mich in der kirchlichen Jugendarbeit. In den achtziger Jahren habe ich dann soziale Arbeit und Sozialpädagogik in Kassel studiert und eine Zusatzausbildung im Bereich Projektmanagement abgeschlossen.
Nach dem Studium war ich in verschiedenen Projekten und Programmen tätig. So unter anderem als Lateinamerikareferentin bei EIRENE e.V. – Internationale Christliche Friedensdienste in Neuwied. Ich bin sehr mit Lateinamerika verbunden, habe dort in jungen Jahren die Theologie der Befreiung kennenlernen dürfen und war lange Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit tätig.
Ich arbeitete mit Basisgemeinden in Guatemala, mit Frauenkooperativen und unterstützte beim Aufbau nachhaltiger gemeindenaher Tourismusinitiativen. Ich beriet staatliche und nichtstaatliche Organisationen im Bereich der beruflichen Bildung. Dabei lernte ich Menschen kennen, die einen mennonitischen, lutherischen oder katholischen Hintergrund hatten und erfuhr, dass wir auch innerhalb der Christenheit sehr vielfältig sind. Die unterschiedlichen Sichtweisen waren sehr bereichernd. Ich habe viele Zusammenhänge und Verflechtungen von Wirtschaft, Politik und Religion verstehen lernen können, die ich auch in der Bildungsarbeit hier in Deutschland einbringen konnte.
In den letzten vier Jahren war ich im interreligiösen Begegnungsprojekt „Glaube.Gemeinsam.Gestalten.“ als Projektkoordinatorin tätig. Dies ist ein Projekt im Evangelischen Dekanat Dreieich-Rodgau und wird mit Mitteln des hessischen Landesprogrammes „Hessen aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“ gefördert. Im Rahmen des Projektes lernten sich junge Menschen unterschiedlichen Glaubens kennen, besuchten Kirchen, Synagogen und Moscheen. Sie feierten gemeinsam Feste und tauschten sich auch über gesellschaftliche Themen aus. Beispielsweise: Wie wird die Schöpfungsgeschichte in den unterschiedlichen Religionen interpretiert und was ergibt sich daraus für das Handeln zur Bewahrung der Schöpfung? Woher kommt der Antisemitismus? Warum werden Muslime angefeindet? Wie konnte es dazu kommen, dass jüdische Menschen und Menschen, die nicht in das nationalsozialistische Weltbild passten, systematisch vernichtet wurden? Warum konnten Christen diese systematische Vernichtung nicht verhindern? Fragen, an deren Antworten wir uns gemeinsam herantasteten. Menschen aus den unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften begegneten sich, kamen ins Gespräch, entdeckten Gemeinsamkeiten und Unterschiede, bauten gemeinsame Erfahrungen auf und reflektierten ihre eigenen Perspektiven. Ein Austausch auf Augenhöhe und viele Freundschaften entstanden.
Jens Haverland: Woher kommt Ihre Begeisterung für den interreligiösen Dialog?
Dagmar Gendera: Ich glaube, der interreligiöse Dialog ist notwendig um das Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu gestalten. Religionen und Rituale prägen uns von Kindesbeinen an. Manchmal aber werden dabei Stereotype benutzt um Macht gegenüber Menschen anderer Religion auszuüben. Das hat nicht zuletzt in der deutschen Geschichte zu Hass und Extremismus geführt und die Folgen der Shoah sind heute noch präsent. Für mich ist es wichtig, dass wir uns erinnern und religionsbedingtem Rassismus in jedweder Form begegnen. Wir müssen raus aus den eigenen „Bubbles“, uns mit Menschen unterschiedlichen Glaubens austauschen, die Menschen kennenlernen und im Gespräch neue Perspektiven für uns und unser Leben entdecken. Das passiert innerhalb, aber auch zwischen den Religionen. Es erfordert die Bereitschaft aufeinander zuzugehen, sich füreinander zu interessieren, offen zu sein und zuzuhören. Austausch und Begegnung in „Echtzeit“ ermöglicht, Respekt und Vertrauen aufzubauen, Gemeinsamkeiten und auch Unterschiede zu entdecken und die eigenen Perspektiven zu reflektieren. Das finde ich bereichernd, um den gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam zu begegnen. Der interreligiöse Dialog ist daher für mich auch ein Hoffnungszeichen: Wenn er gelingt, kann auch eine Gesellschaft der Toleranz und der Vielfalt entstehen.
Jens Haverland: Gibt es etwas, worauf Sie sich bei dem Projekt „Weißt Du, wer ich bin?“ besonders freuen? Worauf sind Sie besonders gespannt?
Dagmar Gendera: Besonders gespannt bin ich auf die Initiativen vor Ort. Wie kamen die Menschen zu der Idee? Welche Projektansätze werden vor Ort umgesetzt? Welche Religionen sind vertreten? Wodurch werden die interreligiösen Initiativen getragen? Wer sind die Menschen, die sich dafür einsetzten? Welche Herausforderungen sehen sie vor Ort? Ich freue mich auf die Menschen und ihre Ideen und kann hoffentlich dazu beitragen, dass sich die Ansätze verstetigen.
Jens Haverland: Was wünschen Sie sich für den interreligiösen Dialog in Deutschland?
Dagmar Gendera: Ich wünsche mir viele interreligiöse Initiativen an vielen Orten in unserem Land! Mein größter Wunsch ist es, dass wir aufeinander zugehen, miteinander sprechen und uns respektvoll begegnen. Dass wir lernen, wieder miteinander zu sprechen und nicht übereinander. Dass wir lernen, unterschiedliche Sichtweisen zu tolerieren und dabei Menschen bleiben, die sich auch mal irren können. Dass wir uns ermutigen, um gemeinsam für Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und Menschenrechte einzutreten. Als religiöse Menschen können wir so mit gutem Beispiel vorangehen, um eine multireligiöse Gesellschaft zu ermöglichen, in der jede und jeder seinen Platz hat.
Jens Haverland: Liebe Frau Gendera, vielen herzlichen Dank, dass Sie sich so bereitwillig auf die Fragen eingelassen haben und uns so einen lebendigen Eindruck gegeben haben, wer da neu in der Projektstelle „Weißt du, wer ich bin?“ und damit im Team der Ökumenischen Centrale ist. Ihnen einen richtig guten Start, ein herzliches Willkommen und schön, dass Sie da sind!
Dagmar Gendera: Ich freue mich auf Sie alle und die Begegnungen mit Ihnen! Herzlichen Dank für das Gespräch.
Projekt "Weißt du, wer ich bin"?"