Ökumene der Herzen braucht auch eine Ökumene der Institutionen

Christian Krieger, Präsident der Konferenz Europäischer Kirchen, Foto: CEC

Christian Krieger, Präsident der Konferenz Europäischer Kirchen, Foto: CEC

(26.09.2018) Christian Krieger, Präsident der Reformierten Kirchen in Elsass-Lothringen, ist auf der letzten Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) zu deren neuen Präsidenten gewählt worden. Nach 100 Tagen im Amt spricht er über seine Erfahrungen und betont, dass die geistliche Ökumene der Herzen und die institutionelle Ökumene der Kirchen zusammengehören. Mit ihm sprach Bernd Densky, Referent für die Freikirchen in der Ökumenischen Centrale.  

Bernd Densky (BD): Sie sind auf der Vollversammlung der KEK Anfang Juni 2018 zum Präsidenten der KEK gewählt worden. Was hat sie dazu bewogen, sich für dieses Amt zur Verfügung zu stellen?

Christian Krieger (CK): Als die Frage zum ersten Mal an mich heran getragen wurde, war ich sehr überrascht: ich sollte mir überlegen, ob ich mich für das Amt des Präsidenten der KEK zu Verfügung stellen wolle. Als Pfarrer und Ratsvorsitzender einer kleinen Kirche, fühlte ich mich nicht von Hause aus für solch ein Amt berufen. Als dann diese Anfrage von verschieden Seiten an mich herangetragen wurde, besonders von Personen, die ich sehr schätze und denen ich nicht so einfach Nein sagen konnte, musste ich mir die Zeit nehmen diesen Ruf zu überdenken.

Drei Argumente haben mich dann bewogen zuzusagen. Zum ersten fühle ich mich dem was die KEK in Europa bedeutet sehr verbunden. Ökumene, Versöhnung, Verständigung zwischen den Völkern, bedeuten mir sehr viel. Meine Heimat, in der oft noch die Wunden des 20. Jahrhundert zu spüren sind, hat mir eine Art Grenzgängerkultur vermittelt, die der DNA und der Aufgabe der KEK in Europa entspricht. Zum Zweiten lege ich als Christ, Theologe und Pfarrer sehr viel Wert auf das Zeugnis der Kirchen in der heutigen säkularen Gesellschaft. Nicht nur die Predigt des Wortes Gottes ist Ausdruck der Botschaft des Evangeliums. Auch der christliche Beitrag zum gesellschaftlichen Leben in Diakonie, Kultur, Bildung und der Beitrag an den ethischen Debatten gehören für mich zur Verkündigung des Evangeliums.  Drittens ist mir klar geworden, dass sich viele in der KEK eine Kontinuität wünschen. Da ich mich während meines ersten Mandats im Governing board der KEK (2013-2018) intensiv engagiert habe, sehe ich mich berufen, die Kenntnisse und Erfahrungen aus dieser Zeit, zur Verfügung zu stellen.

BD: Die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) ist in der Zeit des kalten Krieges gegründet worden. Kirchen aus unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen sollten miteinander ins Gespräch gebracht werden und einander unterstützen. Die KEK hat damit eine Vermittlerrolle für Verständigung und Frieden in Europa eingenommen. Welche Schwerpunkte setzt die KEK heute? Welche Ziele strebt sie an und welche Möglichkeiten hat sie, die Schwerpunkte umzusetzen und zu erreichen?

CK: Seit der Gründung der KEK hat sich die Situation Europas wesentlich verändert. Das Trauma des Zweiten Weltkrieges und des kalten Krieges wurden durch eine intensive Kooperation in Europa überwunden. Europäische Institutionen wurden ins Leben gerufen die Demokratie, Freiheit, Friede, Solidarität und Fortschritt versprachen. Auch die KEK und ihre Mitgliedkirchen haben dazu beigetragen. Heute werden die europäische Institutionen oft nicht mehr als Lösung gesehen, sondern als das Problem. An vielen Orten wächst Populismus und Euroskeptizismus. Verständnis, Versöhnung, bewusst am gemeinsamen Interesse zu arbeiten bleiben wesentliche Herausforderungen. Die beschämende Art wie im Mittelmeer gerettete Migranten auf einen Anlaufhafen hoffen müssen zeigt, wie wenig Solidarität die europäischen Staaten heute aufbringen und wie tief die europäische Krise greift.

Auch die Lage der Kirchen hat sich verändert. Die Säkularisierung ist erheblich vorangeschritten. Die Kirchen sind herausgefordert. Es wird ihnen immer stärker klar, dass sie sich neu und entschlossen mit Evangelisation beschäftigen müssen, dass Ökumene nicht mehr selbstverständlich ist, dass Jugendarbeit eine erheblich Herausforderung ist, dass ihr Beitrag zu den ethischen Debatten nicht unbedingt willkommen ist etc. Natürlich ist die Lage der Kirchen in den europäischen Ländern sehr verschieden. Erstaunlicherweise bleiben aber die Grundthemen die die KEK in ihrer Geschichte geprägt haben sehr aktuell.

Im November wird das Governing board der KEK ein Strategieplan für die kommenden fünf Jahre erarbeiten und verabschieden. Darin werden unter anderem fünf Themenbereiche angesprochen: Zukunft Europas, Gerechtigkeit, Friede und Versöhnung; Ökumene und Gemeinschaft der Kirchen; Beitrag und Stimme der Kirchen in Europa; Jugend; Kommunikation.

BD: Das Thema der Vollversammlung der KEK in Novi Sad war das Bibelwort aus Apostelgeschichte 1,8: „Ihr werdet meine Zeugen sein.“ Wie wurde dieses Motto auf der Vollversammlung entfaltet? Wo sehen sie die Möglichkeiten der KEK für das gemeinsame Christuszeugnis? Welche Grenzen sehen sie? Worin bestand das Zeugnis der Vollversammlung? Wo hat die Vollversammlung zeugnishaft gehandelt?

CK: Die Vollversamlung der KEK in Novi Sad hatte das Thema You shall be my witness in drei Themenbereiche unterteilt: hospitality, justice, witness-hope, die jeweils mittels Bibelarbeiten, Vorträgen  und Gruppengesprächen vertieft wurden. Die verabschiedete Botschaft und die öffentlichen Verlautbarungen spiegeln diese thematische Arbeit.

Aus dem Austausch und den Debatten auf der Vollversammlung ging hervor, dass die Frage des Zeugnisses auf verschiedene Weise angegangen wird. Einige verstehen das Christuszeugnis in erster Linie als die Verkündigung des Evangeliums, die den Glauben wecken soll. Andere bevorzugen die Feier der heiligen Liturgie als Zeugnis der Gegenwart der Kirche. Wieder andere sehen vor allen im Aufruf zum Zeugnis den Dienst an jedem Menschen, besonders an den Bedürftigen. Wieder andere verstehen Zeugnis als den Auftrag ein prophetisches Wort in der Gesellschaft zu verkündigen. Antje Jackelén, Erzbischof von Uppsala, hat ein Verständnis des Zeugnisses in fünf Punkten entwickelt: Zeugnis als Beitrag zur öffentlichen Debatte, Zeugnis als Aufbau von Vertrauensbeziehungen, Zeugnis als Bewältigung der Herausforderung der Ungerechtigkeit, Zeugnis als Entdeckung von Zeichen der Hoffnung, und Zeugnis als Begegnung mit den Bedürftigen.

Allgemein lässt sich feststellen, dass alle Kirchen sich durch die Säkularisation herausgefordert fühlen und den Ruf Christi Zeugen zu sein sehr ernst nehmen, wenn auch auf verschiedene Weisen. Viele sehen heute Evangelisation als eine Ihrer Hauptaufgaben.

In diesem Sinne hat die Vollversammlung der KEK am Ufer der Donau in Novi Sad, einer Stadt, in der Brücken in Konfliktzeiten zerstört und im Frieden wieder aufgebaut wurden, im Gebet versammelt, drei Bäume gepflanzt und so ein öffentliches Zeichen gesetzt und Zeugnis gegeben.

BD: Einige orthodoxe Kirchen sind nach dem Wegfall der Mauer aus der KEK ausgetreten. Die Russisch Orthodoxe Kirche lässt ihre Mitgliedschaft ruhen. Welche Gründe gibt es für diese Distanzierung? Welche Möglichkeiten gibt es, diese Kirchen wieder in das gemeinsame Zeugnis der Kirchen in Europa mit einzubeziehen?

CK: Das ist eine sehr sensible Frage. Distanzierung oder gar Konflikte, gibt es natürlich auch im kirchlichen Milieu, besonders da, wo menschliche oder politische Aspekte entscheidend mitspielen. Da wo wir die versöhnende Kraft Gottes, die im Evangelium bezeugt wird, in uns wirken lassen, ergeben sich neue Horizonte. In Kern des Evangeliums geht es um Inkarnation, darum das Gottes seine Wirklichkeit auch bei uns Menschen verwirklich. Wo wir uns durch das Wort Gottes verändern lassen, seine Kraft in uns wirken lassen, da öffnen sich auch neu Möglichkeiten und neue Horizonte. Darum gehört es zur DNA der KEK beständig eine versöhnende Hand zu reichen, und unermüdlich zu versuchen Brücken zu bauen.

BD: Sie sind seit 2012 Präsident der reformierten Kirche in Elsass-Lothringen. Aus dem Blickwinkel einer kleinen Kirche erleben Sie die Dominanz mancher Volks- oder Staatskirchen. In Serbien z.B. sind die Baptisten und andere evangelische Freikirchen auf Betreiben der serbisch orthodoxen Kirche rechtlich nicht anerkannt und müssen deshalb z.B. Steuern zahlen. Welche Rolle spielt für die KEK die Frage nach „Religions- und Gewissensfreiheit“ und welche Möglichkeiten hat die KEK in diesen Fragen zu intervenieren?

CK: „Religion und Gewissensfreiheit“ sind wesentliche Bestandteile einer Demokratie, deren Versprechen eben darin besteht jegliche Diskriminierung einer Person oder Gruppe auf Grund ihrer religiösen oder kulturellen Identität zu unterbinden. Obwohl Pluralismus in den entwickelten Ländern nach und nach zur Norm wird, tun sich manchmal Gesellschaften und Volks- oder Staatskirchen noch schwer religiöse Pluralität zu akzeptieren. Die Geschichte zeigt, dass Anderssein immer eine Herausforderung für etablierte Kirchen ist.

Eines der Arbeitsfelder der KEK ist Demokratie und Erziehung zur Demokratie. In diesem Rahmen hat die KEK Kirchen begleitet und unterstütz, ihre Rechte zu bekommen. Heute, zum Beispiel, steht die KEK an der Seite der Evangelische Kirche in Spanien, wo der Staat den Pfarrern die Rentenauszahlung verweigert. In Bezug auf die angesprochene Situation lässt sich sagen: selbst wenn die Mitgliederkirchen ihre eigene Entscheidungsfreiheit haben, besteht die Möglichkeit ungerechte Situationen, besonders unter den Mitgliedskirchen, anzusprechen und aufzuarbeiten. Vermittlungsdienste und Brücken zu bauen gehören definitiv zum Selbstverständnis der KEK.

BD: 2021 findet in Karlsruhe die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen statt. Im Blick auf diese Vollversammlung gibt es bei den Baptisten in Deutschland (BEFG) Überlegungen dem ÖRK beizutreten. Andererseits gibt es aber auch Vorbehalte:  Warum ist das alles so kompliziert mit der Ökumene? Warum muss man jahrelang über Tauf-, Abendmahls- und Kirchenverständnis reden? Ist eine „Ökumene der Herzen“ nicht viel einfacher und praktischer? Was würden Sie den Skeptikern antworten?

CK: Ökumene hat verschiedene Gesichter und wächst auf verschiedenen Ebenen. Auf persönlicher Ebene, zwischen Personen oder in den Familien, auf der Ebene der lokalen Gemeinden, aber auch auf der Ebene der Kirchen, Institutionen, und der Theologen. Jede Ebene hat ihre eigene Bedeutung, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Anforderungen. Jede Ebene beinhaltet einen Aspekt der Ökumene und bringt ihren Beitrag auf dem Weg zur Einheit. Was wäre eine Ökumene der Herzen ohne gegenseitige Anerkennung unter den Kirchen? Was wäre eine Ökumene der Institutionen ohne das Fundament theologischer Arbeit? In der Unterschiedlichkeit und Verschiedenheit werden wir mit den Grenzen unseres Menschseins konfrontiert. Dies wird besonders in der Erzählung des Turms zu Babel deutlich. Angesichts des Anderen, den ich nicht auf mich selbst reduzieren oder vereinnahmen kann, wird mir die Möglichkeit gegeben meine Grenzen zu erfahren und zu akzeptieren. Dies gilt auch für die Kirchen. Keine ist Kirche allein. Keine hat in ihrer Tradition, in ihrem Verständnis von sich selbst, oder in ihren theologischen Überzeugungen, allein DIE Wahrheit. Indem sie Gott als Schöpfer gemeinsam feiern, einander begegnen, die anspruchsvolle theologische Debatte über ihr Verständnis des Evangeliums und sich selbst führen, ökumenische Zusammenarbeit betreiben, Gemeinschaft untereinander herstellen, schreiten die Kirchen gemeinsam auf dem Weg der sichtbaren Einheit voran. Ich kann die Baptisten in Deutschland nur ermutigen dem Ökumenischen Rat der Kirchen beizutreten.

BD: Was schätzen Sie an den Baptisten in Bezug auf ihr Mitwirken in der KEK? Welchen Beitrag liefern sie Ihrer Meinung nach?

CD: Ich habe schon erwähnt, wie sehr es während der Generalversammlung zum Ausdruck gekommen ist, dass die meisten Mitgliedskirchen der KEK heute eine ihre Hauptherausforderungen darin sehen, in einem säkularen Umfeld zu evangelisieren. Die Baptisten in Europa, die aus meiner Sicht eigentlich gut mit der soziologischen Minderheitssituation ihrer Gemeinden umgehen, tragen die Verkündigung des Evangeliums Jesus Christi im Kern ihres Glaubens- und Gemeindeverständnisses. Sie teilen mit der KEK und ihren Mitgliedskirchen damit langjährige Erfahrungen. Dass jeder Baptist sich als ein Missionar verstehen soll ist für Volkskirchen, die überlegen, wie sie kollektiv ihre missionarische Aufgabe wahrnehmen können, ein interessanter Impuls. Die Baptisten vertreten in der KEK die evangelikal-missionarische Bewegung. Für dies Engagement in der Ökumene bin ich sehr dankbar.  

BD: Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank für das Gespräch.